Herausforderung «Papierfischchen» – ein Werkstattbericht

Nachfolgender Text erschien im Jahresbericht 2023 des Staatsarchivs.
Autoren: Patrick Birrer, Meinrad Schaller, André Heinzer. Abbildungen: Patrick Birrer, Meinrad Schaller

Wer kennt sie nicht, die unwillkommenen Hausmitbewohner, die sich flink davonbewegen, wenn man eine Ecke der Abstellkammer ausleuchtet, den Teppichrand lupft oder mit dem Staubsauger einen halbdunklen Winkel im Badezimmer bearbeitet. Die Rede ist von den Silberfischchen, Lepisma saccharina. Beim Anblick dieser sechsbeinigen Tierchen bleibt es zuhause meist bei leisen Gruselgefühlen. Vielleicht nimmt man das gehäufte Auftreten derselben auch zum Anlass, bei künftigen Raumpflegeaktionen etwas gründlicher vorzugehen. Dass aber Silberfischchen auch Schäden an Papier, Lederwaren oder Fotografien verursachen können, ist wohl den wenigsten Leuten bewusst.

In den Archiven ist die Problematik, die mit dem Vorhandensein von Insekten in den Magazinräumlichkeiten und den damit verbundenen Schäden an den Beständen einhergeht, bekannt. Mehrere Dutzend Insektenarten ernähren sich unter anderem von Papier oder Pergament mit der Folge von zum Teil bedeutenden Schäden an vereinzelten Archivstücken. Schädlinge wie Schaben oder Buchlaus, aber auch verschiedene Käferarten verursachen in erster Linie Oberflächenfrass, können Archivalien unter Umständen aber auch tiefer beschädigen. Begünstigend für die Ausbreitung solcher Insekten und damit auch für ein höheres Schadenrisiko ist die in den Magazinräumlichkeiten der Archive überdurchschnittlich ausgeprägte ruhige und lichtarme Umgebung.

Ein verhältnismässig «neuer» Schädling und entsprechend in der Fachliteratur noch nicht sehr häufig thematisiert, ist das Papierfischchen, Ctenolepisma longicaudatum, wie das Silberfischchen der Familie der Lepismatidae zugehörig. Anders als die meisten der obgenannten Schädlinge bevorzugt das Papierfischchen eine eher trockene räumliche Umgebung um die 50 Prozent relative Luftfeuchtigkeit. Archivmagazine bieten ihnen daher eine besonders günstige Umgebung, und das Risiko eines Schadenbefalls durch Papierfischchen ist in Archiven vergleichsweise hoch.

Papierfischen mit Millimetermassstab

Ein erster Verdacht bezüglich des Vorhandenseins von Papierfischchen im Archivgebäude kam Ende 2022 auf, als eine Archivmitarbeiterin beim Öffnen von Kartonagegebinden davonhuschende Insekten wahrnahm. Um diesem auf den Grund zu gehen respektive das Ausmass des möglichen Schädlingsbefalls festzustellen, richtete das Staatsarchiv daraufhin ein Insekten-Probemonitoring ein. Zu diesem Zwecke stellte es in verschiedenen Büros und allen Magazinen – vornehmlich in den Raumecken, dazu an einzelnen Längsseiten der Magazinräume und auf ausgewählten Rollgestelltablaren – Schabenklebefallen auf. Der Befund dieses dreimonatigen Probemonitorings ergab einen leichten Befall an Papierfischchen und sogenannten Geisterfischchen, engen Verwandten der Papierfischchen. Bei diesen und den ebenfalls recht zahlreich gefangenen Silberfischchen konnte ein lokaler Herd ausgemacht werden, dem mittels der Zuschüttung der dort vorhandenen Sockelleisten mit Diatomeenerde (Kieselgur) erfolgreich zu Leibe gerückt wurde. Aber auch wenn der Befall insgesamt «nur» ein milder war – er genügte, um weitere Massnahmen (Integrated Pest Management IPM) zu veranlassen mit dem Ziel, den Schädlingsbefall einzudämmen.

Das im Dreieck Monitoring-Prophylaxe-Bekämpfung zum Einsatz gebrachte Massnahmenpaket liess als erstes das Probemonitoring zu einem ausgebauten Definitivum werden. Darüber hinaus wurden die abliefernden Dienststellen neu ebenfalls in das Monitoring einbezogen. Die hierfür verwendeten Schabenklebefallen beliess man bei, neu aber bestückt mit Grillenfasern. Allerdings zeigte sich, dass auch mit diesem neuen Köder nur ein Bruchteil der jeweiligen Schädlingspopulation «in die Falle» tappte und sich diese Methode eben «nur» für Monitoringzwecke, nicht aber zur wirksamen Schädlingsbekämpfung einsetzen liess.

Der so genannte Schabfrass ist eine besondere Zerstörungsform: Ein grosser Teil des Objekts bleibt vorerst erhalten – wenn auch geschwächt. Die Information auf diesem Träger (im Untergeschoss des Staatsarchivs) wurde in kurzer Zeit in einem Durchgang ausradiert. Mit der Zeit verschwindet dann auch das Trägerobjekt.

Monitoring

Während rund eines Jahres wurden in den «inhouse»-Fallen rund 400 Fischchen, darunter 13 Papierfischchen, festgestellt; eigentlich ein «tröstlicher» Befund, denn diese Menge gerade an gefangenen Papierfischchen ist überschaubar. Auch wurden die Schädlinge überwiegend dort gefangen, wo zuvor Unterlagen aus von auswärts kommenden Ablieferungen hingestellt worden waren. Allerdings gehen wir davon aus, dass – wie im Vorabschnitt erwähnt – die effektive Zahl an vorhandenen Papierfischchen die gefangenen bei Weitem übersteigt; und eine weitere Erkenntnis des Monitorings: Neben Fischchen sind offenbar auch verschiedene Käfer und weitere Insekten im Archiv aktiv. Vor allem das vermehrte Auftreten des sogenannten Teppichkäfers, auch er ein Archivschädling, gilt es sorgfältig im Auge zu behalten. 

Als besorgniserregender erwies sich der Befund des Schädlingsmonitorings bei einzelnen Dienststellen. Die teilweise grosse Anzahl der dort gefangenen Papierfischchen liess uns die Übernahme nicht quarantänisierter Unterlagen von den Dienststellen stoppen und als wirksame Schädlingsbekämpfung das vorübergehende Einfrieren infizierter Bestände anwenden. 

Schädlingsbekämpfung

Zur wirksamen Bekämpfung der Papierfischchen wird in der Literatur vorgeschlagen, infizierte Bestände entweder während mindestens einer Stunde einer Temperatur von +47.5 °C (Wärmebehandlung) oder aber während mindestens 12 Stunden einer solchen von -20°C (Kältebehandlung) auszusetzen. Das Staatsarchiv hat sich für die letztere Methode entschieden – eine aufwendige zwar, aber eine (mindestens bis anhin) mit maximalen Erfolgen; die notwendigen Voraussetzungen: ausreichende personelle Ressourcen, hinreichende Gefrierkapazitäten und genügende Quarantäneräumlichkeiten. Diese sind bei uns nur teilweise erfüllt: Zwar ist Fachpersonal zum Gefrieren da, doch geschieht diese Tätigkeit (wie übrigens das gesamte IPM) auf Kosten weiterer notwendiger konservatorischer und restauratorischer Arbeiten. Die Gefrierkapazität der hauseigenen Gefriertruhe sodann beläuft sich auf ein Volumen von 560 Litern. Das reicht, um pro Woche rund fünf Laufmeter Unterlagen zu behandeln. Grössere Mengen – man denke an die Hunderte von Laufmetern umfassenden infizierten Unterlagen, die im Rahmen des Projektes «Zentrales Verwaltungsgebäude Seetalplatz» (KVSE) an das Staatsarchiv abgeliefert werden – sind auch mit der doppelten Gefrierkapazität nur über Jahre hinweg zu bewältigen. Und hier wiederum kommt einer der wenigen wesentlichen Mängel unseres Archivgebäudes zum Tragen: das Fehlen von geeigneten Zwischenarchivräumlichkeiten, die gleichzeitig Bedürfnisse einer funktionierenden Quarantänisierung infizierter Bestände abdeckten. Diese zusätzlichen Lagerräumlichkeiten zu akquirieren, ist wesentlich für eine erfolgversprechende Schädlingsbekämpfungsstrategie. 

Papierfischen mit Millimetermassstab

Prophylaxe

Eine einfache aber wirksame prophylaktische Massnahme ist die Separierung und Entsorgung von Kartonagen, insbesondere Wellkarton, einer von Papierfischchen bevorzugten Aufenthaltsumgebung. Zur Prophylaxe gedacht ist im Weiteren die Einrichtung einer sogenannten «Sektorenbildung». Dahinter steckt ein Barriereprinzip, das es den Papierfischchen verunmöglichen soll, sich innerhalb des Gebäudes über weitere Strecken fortzubewegen. Mittels eines sehr glatten Streifens Kunststoff am Wandsockel wird das Hindernis für die Fischchen unüberwindbar – ein gutes Instrument, einen möglichen Befall einzugrenzen.

Die Prophylaxe beginnt bereits bei den Dienststellen. Dort wird – wie oben erwähnt – vor geplanten Ablieferungsprojekten ein standardisiertes Schädlingsmonitoring durchgeführt. Wird dabei ein Befall festgestellt, so werden in Absprache mit der abliefernden Stelle die Möglichkeiten der Schädlingsbekämpfung geprüft. Handelt es sich um einen kleinen Bestand, wird dieser «inhouse» mittels des oben beschriebenen Gefrierverfahrens behandelt. Bei umfangreicheren Unterlagen, insbesondere bei den zahlreichen kantonalen Dienststellen, die vor dem Umzug ins KVSE Hunderte Laufmeter an Akten ans Staatsarchiv übergeben möchten, reichen die eigenen Gefrierkapazitäten nicht aus, und die Schädlingsbekämpfung muss anders geregelt werden. 

Eine Möglichkeit ist das Einfrieren der Unterlagen durch externe Anbieter. Dieses erlaubt zwar die Behandlung grosser Mengen an Unterlagen, ist im Verfahren aber relativ umständlich und teuer. Eine zweite Möglichkeit ist die Ersatzdigitalisierung, also die nach vorgegebenen Massgaben und entlang eines etablierten Prozesses veranstaltete Digitalisierung, in deren Anschluss die papierenen Unterlagen mitsamt den Papierschädlingen vernichtet werden; zwei weitere Vorteile der Ersatzdigitalisierung: der dadurch «eingesparte» physische Platzbedarf sowie der Umstand, dass die Unterlagen den Dienststellen auch nach erfolgter Ablieferung an das Archiv weiterhin zur direkten Verfügung stehen. Relativiert wird dieser letztere Befund dadurch, dass die Dienststellen bereits jetzt schon mindestens einen Teil ihrer Unterlagen, «digital born» oder als sogenannte Gebrauchsdigitalisate, ungeachtet von Ablieferungen an das Archiv längerfristig direkt verfügbar halten. Auch werden die Kosten des eingesparten physischen Platzbedarfs mehr als aufgewogen durch die Pflege der digitalen Daten: Die Archivierung digitaler Daten ist ungleich kostenaufwendiger als jene von physischen Unterlagen. Dazu kommt, dass bereits die Herstellung der Scans bei der Ersatzdigitalisierung beträchtliche finanzielle und personelle Aufwendungen in sich birgt. Damit nämlich Unzulänglichkeiten in den Bereichen «Nachweis des Scanprozesses», Metadaten, archivische Mikrobewertung etc. vermieden werden können, verlangt die Ersatzdigitalisierung den Einsatz von qualifiziertem Personal – seinerseits ein gewichtiger Ressourcenfaktor. Ungeachtet der Kosten bestehen schliesslich grundsätzliche Zweifel daran, ob eine Ersatzdigitalisierung aus archivischer Sicht überhaupt legitim ist. Denn jede Migration bringt Informationsverluste mit sich – auf Papier produzierte Unterlagen, so die überwiegende Archivsicht, sollten der Authentizität der Unterlagen halber auch papieren überliefert werden.

Drittens schliesslich anerbietet sich die Zwischenlagerung von grossen Ablieferungen in einem hinreichend Platz und Infrastruktur bietenden Aussenmagazin, das den Ansprüchen für deren Quarantänisierung genügt. Die eigentliche Schädlingsbekämpfung erfolgt dann sukzessive und über mehrere Jahre hinweg vorwiegend mit staatsarchiveigenen Gefrierkapazitäten.

Fazit

Als beste Lösung der Schädlingsbekämpfung kristallisiert sich Variante 3, Aussenmagazin mit Qurantänemöglichkeiten, heraus. Währenddessen wird – wenn überhaupt – nur ein Teil der archivwürdigen Unterlagen adäquat ersatzdigitalisiert werden können mit der Konsequenz, dass das Archiv auch weiterhin schädlingsbefallene physische Akten übernimmt. Auf Grund der in den nächsten Jahren ausstehenden, knapp 4 Laufkilometer archivwürdigen abzuliefernden Unterlagen muss daher dringend eine Raumlösung für befallene Unterlagen gefunden werden – im Staatsarchiv selber gibt es keine geeignete Fläche für die Quarantäne und Zwischenlagerung von befallenen Beständen, besonders im Umfang derer, die auf Grund des KVSE vorzeitig übernommen werden müssen. Langfristig werden nachhaltige Massnahmen zum Schutz des Archivbestands evaluiert und im Rahmen der Möglichkeiten umgesetzt werden müssen, sei es die obgenannten steten Einfriermassnahmen oder gegebenenfalls periodische, extern durchgeführte Schädlingsbekämpfungsaktionen oder eine Anpassung der Räumlichkeiten

 

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