Die Luzernerinnen und Luzerner wissen's genau: Die Stadt Luzern wurde 1178 oder in unmittelbarer Nähe zu diesem Datum gegründet. 1978 feierte die Stadt ihren Gründungsakt anlässlich des Festes «800 Jahre Stadt Luzern 1178–1978».
Warum wir das wissen? Weil uns eine Urkunde von 1178 vorliegt, die beschreibt, wie der Murbacher Abt, Konrad von Eschenbach, einen Teil der seelsorgerischen Aufgaben vom Kloster St. Leodegar wegnimmt und diese einem weltgeistlichen (nicht mönchischen) Leutpriester zuweist. Seelsorge aber macht nur dann Sinn, wenn auch Leute vorhanden sind, die der Seelsorge bedürfen, z.B. die Bürger einer Stadt.
Soweit alles klar, könnte man meinen, oder aber doch nicht? Immerhin steht die im obigen Abschnitt formulierte, hier etwas zugespitzte Hypothese «Seelsorge benötigt eine Nachfrage durch eine Ansammlung von Leuten, vielleicht von Stadtbürgern, darum die Stadtgründung» auf zugegebenermassen wackeligen Füssen. Vielleicht finden sich noch andere Hinweise, die auf eine Stadtgründung um 1178 schliessen lassen?
Hilfe kommt vom Historiker Karl Meyer, der 1932 in kraftvoller, innovativer und stringenter Weise die These, Luzern sei um 1178 gegründet worden, überhaupt erst herausgearbeitet hat. Für Meyer war klar: Die Indizien weisen auf einen Gründungsakt um 1178 hin; erstes Indiz: der Analogieschluss – Die meisten mittelalterlichen Städte sind Gründungsstädte. Eine gegründete Stadt Luzern ist daher plausibel; zweites Indiz: das herrschaftliche Umfeld – Die Leutpriesterei errichten liessen die Freiherren von Eschenbach. Diese mussten an einem starken wirtschaftlichen und administrativen Zentrum nahe ihrer Stammlande ein Interesse haben. Zu diesem Zweck bauten sie den alten Klosterhof Luzern zu einer Stadt aus. Nicht von ungefähr lassen sich ab dem 13. Jahrhundert nachweislich neue städtische Einrichtungen gegenüber früherem Hofrecht feststellen; Einrichtungen, die dem Abt als Grundherrn gehörten und somit auch von diesem geschaffen worden sein dürften; drittes Indiz: der wirtschaftliche Aufschwung wegen des zunehmenden Gotthardverkehrs als Folge des Friedens von Venedig 1177 – ein weiteres Mosaiksteinchen für die wirtschaftlichen «Goldgräber»-Absichten der Eschenbacher, die mit der Stadtgründung gewissermassen die Gunst der Stunde nutzten. Die gestiftete Leutpriesterei als viertes Indiz fügt sich als «kirchliches Seitenstück» zur Stadtgründung hervorragend in diese Theorie ein.
Es ist eine Ironie von Jubiläumsveranstalten, dass gerade sie es sind, die lieb gewordene Theorien just zu dem gerade zelebrierten Anlass ins Wanken bringen. Jubiläumsveranstaltungen sind nämlich vielfach Ausgangspunkt für neue Forschungen, die ältere wissenschaftliche Resultate kritisch hinterfragen. Das war im Jubiläumsjahr 1978 nicht anders, als eine Reihe von Historikern die Darstellung von Meyer zwar als innovativ und scharfsinnig würdigten, seine These von der planvollen Stadtgründung aber weitgehend ablehnten. Vor allem den Wirtschaftsverkehr am Gotthard habe Meyer überbewertet – eine damit verbundene Stadtgründung liesse sich nicht halten. Dasselbe gälte auch für eine wie auch immer geartete Rolle der herrschaftsnahen Eschenbacher bei der Stadtgründung. Probleme böten auch die erst im frühen 13. Jahrhundert auftauchenden Stadtbürger, «burgenses» – zu spät erwähnt, als dass eine Gründung um 1178 in Frage käme. Ganz abgesehen davon fehlten in der Urkunde von 1178 Hinweise auf eine Stadt Luzern gänzlich; eine Urkunde notabene, die nicht etwa Aussergewöhnliches beschrieb. So dürfe mit der Einrichtung der Leutpriesterei nicht etwa eine Stadtgründung angenommen werden, sondern schlichtweg das auch andernorts zu beobachtende Bedürfnis der Mönche, ihre Stundengebete und Ämter klar von den Volksgottesdiensten zu trennen.
Heute hat die Forschung von der These der planvollen Stadtgründung weitgehend Abstand genommen. Ob es 2078 in Luzern dennoch wieder eine Jubiläumsfeier gibt?