Alles eine Frage der Interpretation? Oder der Dekonstruktion? Auf der Suche nach der historischen «Wahrheit»

Das Beispiel der Lothar-Urkunde zeigt: Die objektive geschichtliche Wahrheit gibt es nicht. Stattdessen kann plakativ gesagt werden: Jede Gegenwart schafft sich eine passende Vergangenheit. Im 16. Jahrhundert beispielsweise kannte der bedeutendste Schweizer Chronist Ägidius Tschudi die Lothar-Urkunde sehr gut und folgerte daraus – wie die Forscher nach ihm – eine direkte Abhängigkeit des Klosters mitsamt der Stadt Luzern von der Abtei Murbach. Für den gegenreformatorisch gesinnten «Eidgenossen» Tschudi war es wichtig, eine starke und wichtige, wenn auch von Murbach abhängige Stadt Luzern vor sich zu haben. Er zögerte denn auch nicht, Luzern ab dem 7. Jahrhundert als Nachfolgerin von Windisch als Hauptstadt des Aargaus zu deklarieren.

 

Philipp Anton von Segesser wiederum legte seine Forschungsergebnisse vor in einer Zeit, als die «moderne» Geschichtswissenschaft gerade richtig Fahrt aufgenommen hatte. Angehalten zur Quellenkritik und der kritischen Schule des Philologen Joseph Eutych Kopp verpflichtet, beschrieb er jene Geschichte, die er in den Quellen vorfand: in Bezug auf die Lothar-Urkunde also den Schenkungsakt des Klosters Murbach an Luzern und nur diesen; keine Spur von einer älteren Stadt Luzern, denn Quellen zu einem solchen Befund kannte er keine, hatte bereits Ägidius Tschudi keine gekannt.

 

Bis in die 1930er-Jahre folgten zahlreiche weitere Publikationen zur Lothar-Urkunde, die jede auf ihre eigene Art interpretierte, nur ausnahmsweise aber am Abhängigkeitsverhältnis Luzerns von Murbach rüttelte. Argumenten des einen Forschers begegneten andere mit Gegenargumenten. Neu hielt die beschriebene Dativ-Monasterio-Theorie Einzug in die Forschung. Hier war es nun die jeweils unterschiedliche Forscherregion, die sich ihre passende Vergangenheit schaffte: Auf der einen Seite verfochten verschiedene Zentralschweizer Forscher wie Franz Rohrer oder Josef Leopold Brandstetter den Dativ und mit ihm das Kloster Luzern als beschenktes Institut. Andererseits folgte die ausländische Geschichtsschreibung mit den «Regesta imperii» oder dem «Kirchenlexikon» dem überlieferten Akkusativ, der gewissermassen das Kloster Luzern an Murbach schenkte. Selbstverständlich schloss sich die elsässische Geschichtsschreibung dieser Zeit ihrerseits der Akkusativ-Variante an.

 

Für die von der eigenen Herkunft kaum trennbare Geschichtsschreibung gibt es noch berühmtere Beispiele als die Interpretation der Lothar-Urkunde. Die wohl bekannteste ist die Geschichtsschreibung unseres eigenen Landes, die von Westschweizern oder Deutschschweizern, Konservativen oder Liberalen, älteren und jüngeren Schreibern, Reformierten oder Katholiken geschrieben wurde. Sie alle hatten unterschiedliche Wissensbestände vor sich, unterschiedliche Perspektiven oder gingen verschiedenen Fragestellungen nach.

 

Keine Frage, dass sich die Chronistik des Ägidius Tschudi über die Eidgenossenschaft stark unterscheidet von der 2014 erschienenen «Geschichte der Schweiz» von Georg Kreis; einleuchtend auch, dass der katholisch-konservative Philipp Anton von Segesser – auf Föderalismus bedacht – weniger als die liberalen Geschichtsschreiber angetan war von der schweizerischen Nationalgeschichte um die freien Urschweizer Bauernvölker und die bösen Habsburger Vögte. Dass sich dann die Geschichtsschreiber des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf 1291 als Gründungsdatum der Eidgenossenschaft einigten, half dann schliesslich den Katholisch-Konservativen wie den Liberalen. Letztere fanden ihr vaterländisches Geschichtskonzept bestätigt, erstere figurierten im Geschichtsbild der Schweiz nun an zentraler, staatsbegründender Stelle. Die Integration der Verlierer des Sonderbundskriegs in den Bundesstaat war damit vollendet.

 

Passend auch zur gesellschaftlichen Umbruchzeit der 1960er- und 1970er-Jahre, dass damals verschiedene Historiker die im Zuge der Geistigen Landesverteidigung in den 1930er-Jahren mitsamt Wilhelm Tell wiederaufgenommene Befreiungstradition Stück für Stück demontierten. Heute bewegt sich die Geschichtsschreibung weg vom «blossen» Dekonstruieren von scheinbar überkommenen Geschichtsbildern oder Mythen. Stattdessen stellt sie sich die Frage, warum zu bestimmten Zeiten bestimmte Ereignisse gerade so und zu anderen Zeiten eben anders gedeutet wurden.