Migration: Beschwerde von Regierungsrat Göldli über die Fahrenden im Kanton Luzern, 1815

Der Regierungsrat und Chef des Landjägerkorps des Kantons Luzern fasst in seinem Text alle Ängste und Befürchtungen zusammen, die eine Mehrheit seiner Zeitgenossen beim Anblick von Heimatlosen hegen. Und da die Frage des Bürgerrechts auch für einheimische Arme noch nicht geregelt ist, wird nicht immer sauber geschieden zwischen fremden und eigenen Vaganten, die sich Gemeinden und Kantone gegenseitig zuschieben.

Literatur:
Kiener, Franz. Im Einsatz für Sicherheit, Ruhe und Ordnung: die Kantonspolizei Luzern 1803-2003, Luzern 2003 (StALU D.ZZ 314).

Das Original liegt im Staatsarchiv Luzern mit der Signatur: AKT 24/14.C

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Beschwerde von Regierungsrat Göldli über die Fahrenden im Kanton Luzern, 1815 - Seite 1
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Luzern den 15ten November 1815
Der Regierungs-Rath, Chef des Landjäger Corps
an
den hohen Polizey-Rath der Stadt u[nd] Republik Luzern.
Hochgeachte hochwohlgebohrne Herren!
Schon längere Zeit hört man überall, sowohl von Behörden u[nd] Beamten
als Partikularen die einstim[m]ige Klage, daß der ganze Kanton von Vaga-
bunden, Deserteurs und anderem Gesindel überschwem[m]t sey, u[nd] daß fast
niemand mehr, wie die häüfigen Einbrüche u[nd] Diebstähle beweisen,
seines Eigenthums sicher sey, daß die Landjäger, anstatt durch un-
ermüdete Thätigkeit u[nd] Wachsamkeit in Nachspürung u[nd] Aufhebung
dieses Jaunergesindels diesem Unwesen zu steüren, u[nd] das öf-
fentliche u[nd] Privatvermögen zu sichern, dadurch die Achtung u[nd] den Dank
der Kantons-Einwohner zu verdienen, u[nd] so dem Hauptzweke ihres Berufs
zu entsprechen, ihren Eifer nur auf kleine Polizeiliche Vergehen be-
schränken, u[nd] dabey, wen[n] sie auch nicht allemahl ihre Befugniße überschrei-
ten, doch wenigstens stäts eine wiedrige, sie bey jederman[n] verhasst u[nd]
verachtet machende Hartnäkigkeit und Intreßesucht verrathen.
Zwar ist es mir durch zwekmäßige Maßregeln u[nd] gehörig angewandte
Strenge gelungen, diesen letztern Beschwerden gröstentheils abzuhelfen,
u[nd] es steht zuversichtlich zu erwarten, daß durch meine kürzlich gethanen
Schritte u[nd] genom[m]enen ernstlichen Verkehrungen auch die Erstern u[nd]
Wichtigern dieser Klagen wo nicht ganz, doch zum Theil gehoben werde.
Um die Ehre des Corps aber vollends zu retten, halte ich es für Pflicht,
Hochdieselben auf einen Umstand aufmerksam zu machen, ohne deßen
Beseitigung man meiner Ansicht nach die sich auf die Berichte vieler
alter in diesem Falle erfahrenen Landjäger u[nd] auf die Behauptungen
mehrerer andern sachkundigen Persohnen stützen, gewiß ein zum gewünsch-
ten Zweke, nämlich völlige Säüberung des Kantons von allem aufständ-
ischen Gesindel, u[nd] daherige Sicherstellung des öffentlichen u[nd] Privat-
Eigenthums gelangen kan[n].
Dieser Umstand betrifft die häüfigen mit Kantons-Scheinen versehenen, im
Lande herumvagierenden heimathlosen Familien.  
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Hochdieselben wollen erlauben, in dieser Sache etwas in Detail einzugehen.
Bekantlich bewilligte die Zivillkam[m]er der abgetrettenen Regierung sehr
vielen u[nd] zahlreichen heimathlosen Familien, meistens Convertiten, bis
zur nächsten Eintheilung, oder bis zum beendigten Untersuch ihrer Heimath-
ansprüche, sich im Kanton aufzuhalten, u[nd] stellte ihnen zu diesem Ende
Scheine aus, worin gewöhnlich blos steht: "Dem N. N., samt seiner Frau u[nd]
so u[nd] soviel Kindern ist anmit der Aufenthalt im Kanton auf so u[nd] so lang
bewilligt [etcetera]". Anstatt nun sich irgendwo niederzulaßen, durch Arbeit u[nd]
Fleiß ihr Brod zu verdienen u[nd] dadurch uns durch gute Aufführung sich der
Gnade u[nd] des Glükes, in irgendeine Gemeinde des Kantons eingetheilt zu
werden, würdig zu zeigen, ziehen diese Familien, fast durchgehends Leute
ohne Moralitaet u[nd] mit einem von Kindheit an gänzlich verdorbenen
Charakter, in Banden von meistens 10, 12 bis 20 Persohnen, müßig im
Lande herum, halten sich Som[m]erszeit gewöhnlich in Wäldern u[nd] abgelegenen
Gegenden auf, u[nd] verursachen durch ihr feüern u[nd] kochen u[nd] daherigem
Holzfrevel nicht wenig Schaden. Winterszeit zwingen sie den fleißigen
Landma[n] nicht nur seine Scheünen zum Wohnplaz einzuräumen, die sie
durch unvorsichtiges rauchen u[nd] kochen, wie Beyspiele lehren, nicht selten
in die gröste Feüersgefahr setzen, sondern sie fordern, manchmahl noch mit
Pochen und Ungestüm, allerley Lebensmittel als: Erdäpfel, Brod, Anken [etcetera]
von ihm, die er ihnen nicht verweigern darf, wen[n] er nicht stäts befürchten
will, daß sie ihre gewöhnliche Drohung, ihm seine sämtlichen Gebäüde in
Brand zu steken, die sie dan[n] noch ernstlicher wiederholen, wen er, empört
durch ihr schändliches Betragen, sich verlauten läßt, die Landjäger zu Hilfe
zu rufen, erfüllen. Sehr oft schließt sich auch ganz fremdes, ihnen be-
kantes, sehr gefährliches Jaunergesindel einer solchen Familie an, u[nd] treibt
unter dem Vorwande, Söhne oder Töchter des den Kantonsschein Besitzenden zu
seyn, ungestört u[nd] unangefochten im Lande sein Unwesen. Damit aber,
falls sie angehalten würden, nicht mehr Persohnen vorhanden sind, als der
Duldungsschein enthält, werden einige Kinder irgendwo auf den Bettel
ausgeschikt, u[nd] bey ihrer Zurükkunft sogleich durch andere abgelöst.
Da sie, einige erbärmliche Gewerbe, als Pfan[n]enfliker, Korbmacher,
u[nd] s[o] w[eiter], ausgenohmen, keine sichere Erwerbsquellen besitzen, woraus sie
sich ehrlich ernähren kön[n]en, wobey sie den[n]och, wie bekant ist, oft eine
empörende Verschwendung zeigen, so müßen sie natürlich ihre Zuflucht zum
Betteln u[nd] Stehlen nehmen; daher sind die häüfigen Obst- u[nd] andern Diebstähle
u[nd] Einbrüche leicht erklärbar. Durch ihre Bekantschaften u[nd] Verbindungen
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mit auswärtigem Jaunergesindel könen sie dan[n] das Gestohlene
ohne Gefahr, entdekt zu werden, im Ausland an Man[n] bringen.
Ihre gewöhnlich zahlreichen Kinder, die sie meistens, da ihnen durch
Landesgesetze das Heirathen untersagt ist, unehelich erzeügen, erhal-
ten natürlich nicht nur gar keine Erziehung, u[nd] nicht den geringsten
Religionsunterricht, sondern sie sehen u[nd] hören von ihrer frühesten
Jugend an täglich von ihren schändlichen Eltern u[nd] den übrigen bey der
Bande sich befindenden gewöhnlich noch schlechtern Menschen, die unsitt-
lichsten Auftritte, frechsten Reden, Flüche, Schwüre u[nd] Gotteslästerungen,
schändlichsten Erzählungen u[nd] Diebesgeschichten, die kühnsten Pläne zu
neüen Einbrüchen u[nd] s[o] f[ort], werden oft aufgemuntert, das gleiche
nachzumachen, frühzeitig im Lügen geübt u[nd] an Müßiggang gewöhnt.
Auf solche Art wachsen sie auf u[nd] werden fast im[m]er nicht nur nicht
beßer als ihre Eltern, sondern es entstehen aus ihnen öfters die
kühnsten u[nd] schlausten Diebe u[nd] gefährlichsten Räuberbanden.
Trift nun ein patrouillierender Landjäger eine solche Bande an, so weiset
man ihm, oft noch trozzend u[nd] schmähend, auf sein Verlangen den Duldungs-
schein, u[nd] er kan[n], da er denselben respektieren muß, nichts machen,
als nachsehen, ob die Zahl der im Kantonsschein enthaltenen Persohnen
der sich Vorfindenden eintrift. Will er nachsehen, ob sie etwa
gestohlene Sachen auf sich tragen, so findet er gewiß nichts, den[n] aus
Vorsicht schaffen sie dieselben sogleich über die Gränze. Fragt er,
aus was sie sich den[n] ernähren, so weiß einer das, der andere dieses zu
arbeithen; kurz sie wißen sich mit Lügen, List u[nd] Ränken überal,
sogar oft bey Behörden u[nd] Beamten, durchzuhelfen.
Hochdieselben werden aus dem Gesagten gewiß selbst ersehen, daß bey
solcher Lage dieser Sache es dem thätigsten, wachsamsten u[nd] uner-
müdesten [!] Landjäger nicht möglich ist, seinen Kreis von Landstreichern
u[nd] Bettlern gänzlich zu reinigen, u[nd] dadurch das Eigenthum u[nd] Wohl der Bewohner
desselben zu sichern.
Wen[n] man nun betrachtet: wie sehr diese im Kanton herumvagier-
enden, heimathlosen Familien durch ihre Neigung zum Müßiggange
u[nd] dadurch folgendem Hange zum Bettel u[nd] Diebereien u[nd] boshaften
Beschädigungen, die phisische [!] Kraft des Staats schwächen u[nd] den Wohlstand
u[nd] das Glük der Bewohner desselben untergraben, u[nd] wie sehr nachtheil-
ig sie durch ihr Beyspiel äußerster Verdorbenheit u[nd] Unmorali-
tät selbst auf die Sitten derselben einwirken; wen[n] man[n]
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bedenkt, wie viel mehr man noch von ihnen in Zukunft, wen[n] sie in
ihrer gegenwärtigen Lage gelaßen werden, bey ihrer sich im[m]er mehr-
ender Anzahl u[nd] Bosheit zu fürchten hat; wen[n] man ferner betrachtet: wie
wenig sie durch ihre schlechte Aufführung die Gnade der Eintheilung
verdienen, u[nd] wie unwürdig dieses Glükes sich die meisten derjenigen
heimathlosen Individuen, die von der Regierung schon früherhin ein-
getheilt worden sind, betragen, wie sehr sie durch Müßiggang u[nd] Sitten-
losigkeit noch im[m]er ihre Abstam[m]ung verrathen, u[nd] wie wenig man
daher auch von den noch nicht Eingetheilten Beßerung zu hoffen hat:
so steigt gewiß bey jederman[n] der herzliche Wunsch auf, die hohe
Regierung möchte ernstliche u[nd] kräftige Maßregeln treffen, daß der
Kanton von diesem verdorbenen, gefährlichen u[nd] unverbeßerlichen
Gesindel gereinigt werde.
Hochdieselben daher bittend, sich dieser für die Ehre der hohen Regierung
u[nd] des Landjäger Korps sowohl, als auch für das Wohl u[nd] die Sicherheit
der Kantons Einwohner, so wichtigen Geschäfts mit dem gewohnten
Eifer u[nd] Nachdruk anzunehmen, u[nd] Ihren weisen Einsichten über-
laßend, die hiebei nöthig u[nd] zwekmäßig findenden Maßnahmen
bey hohen täglichen Rath in Antrag zu bringen, bin ich noch so frey,
Hochdieselben zu ersuchen, vorläufig sich dahin zu verwenden,
daß die ausgestellten Duldungsscheine mit dem Signalement jeder
Persohn, der darin[n] der Auffenthalt bewilligt ist, versehen, u[nd]
jährlich samt dem Signalement erneüert werden möchten, damit
nicht so leicht fremdes Jaunergesindel unter irgend einem Vorwande
sich solchen Fam[m]ilien von Tolleranten anschließen kan[n].
Schließlich habe die Ehre Sie, Hochgeachte, Hochwohlgebohrne
Herren! meiner ausgezeichneten Hochachtung u[nd] Ergebenheit
zu versichern.
Der Regierungs-Rath Chef des Landj[äger] Corps
Göldlin
Colonel

Transkription: S. Jäggi
Einleitung: G. Egloff
Produktion: M. Lischer