Migration: Polizeirapport über die Maifeier der italienischen Arbeiter in Luzern, 1897

Polizeikorporal Anton Aerni berichtet über seine Beobachtungen anlässlich der Gründung eines sozalistischen Vereins von italienischen Arbeitern nach dem Vorbild eines bereits existierenden deutschen Arbeitervereins. Er tut dies im Auftrag der eidgenössischen Bundesanwaltschaft, die nicht nur sozialistische Bewegungen scharf beobachtete, sondern infolge der sogenannten Italienerkravalle in Zürich 1896 auch vermehrt über Ausländer ermitteln liess.

Literatur:
Das Jahrhundert der Italiener in der Schweiz, hrsg. von Ernst Halter, Zürich 2003 (StALU C.z 300).
D'Amato, Gianni. Vom Ausländer zum Bürger: der Streit um die politische Integration von Einwanderern in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, Hamburg 2001 (ZHBLU R.u 17386).

Das Original liegt im Staatsarchiv Luzern mit der Signatur: AKT 34/102.B

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Polizeirapport über die Maifeier der italienischen Arbeiter in Luzern, 1897 - Umschlagseite
[Umschlagseite]
Polizeirapport über die Maifeier der italienischen Arbeiter in Luzern, 1897 - Seite 1
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Luzern, den 3. Mai 1897
Rapport
an Tit[uliertes]
Polizei Commando in Luzern!
Auf Ansuchen des schweiz[erischen] Bundesanwaltes
in Bern beauftragten Sie Unterzeichneter über
das Gebahren der hiesigen italienischen Arbeiterführer
Ihnen zu Handen der obigen um Aufschluß er-
suchenden Beamtung Bericht zu erstatten.
Um zu etwelchen diesbezüglichen Ergebniße zu
gelangen, benutzte ich nun vorerst die Abhaltung
der letzten Maifeier in hiesiger Stadt, an welcher
sich vorzugsweise eine ziemlich bedeutende An-
zahl ital[ienischer] Arbeiter unter Anführung ihrer Capos
beteiligte.
Diese Feierlichkeiten hatten folgende Gattung [und]
es nahmen dabei nachbenan[n]te Redner oder
sonstige Agitateurs teil: Am 30ten April
abh[in] wurde in der Wirtschaft z[ur] Eintracht eine circ[a]
80-100 Man[n] starke ital[ienische] Arbeiterversam[m]lung, wel-
cher ich auch beiwohnte, abgehalten. Als Redner
trat ein extra hiehergereister Sperone, Maler,
auf. Derselbe versuchte der Versamlung die
Notwendigkeit zur Bildung eines Arbeiter-Verein-
es darzulegen, ermunterte sie, den 1. Mai als
einen Weltfesttag durch Arbeitseinstellung zu feiern,
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und ereiferte sie, indem er ihr trauriges Loos in
den grellsten Farben vor die Augen spiegelte.
Unterstützt wurde er durch einen gewissnen
Giovando, Maurer, aus Mailand, cir[ca] 40 Jahre
alt, 175-178 c.m. hoch, mit breitem Gesicht, dunkle
Haare, [und] durch einen abgeblichen Tonazzi, circ[a]
33 J[ahre] alt, klein, fest, Haare dunkel, Gesicht rund, voll,
schielt ein wenig. Letzterer übertraf an Heftigkeit
seines Auftretens seine Vorredner. Es wurde
eine Komite gebildet, aus welchem mir folgende
Namen bekan[n]t wurden:
1. Borino Giuseppe, in hier;
2. Maraggi Paul, d[it]o;
3. Sante Andrea, d[it]o;
4. Segare Carl, d[it]o.
Führe hier gleichzeitig an, daß ich ihre weitere
Identität erst noch in Erfahrung bringen muß.
Die Versam[m]lung stim[m]te dieser Ernen[n]ung zu [und]
beschloß bereits mit Einstim[m]igkeit, den 1. Mai
zu feiern [und] sich an einem Demonstrations-Umzuge
zum Anschluße an die deutschen Vereine zu ar-
rangiren. Während dem Unterhalte dieser Ver-
sam[m]lung gelangten sog. rote Zugszeichen [und] soziale
Schriften, von welchen ich einzelne Exemplare kaufte,
gegen Bezahlung zur Austeilung. Ebenso wurde
eine Geldsam[m]lung veranstaltet. Nun Morgens 6
Uhr als den 1. Mai sam[m]elten sich dieselben wieder
auf dem Bahnhofplatze, zogen dan[n] in einer
circ[a] 140 Man[n] zählender Abteilung, welche sich
schließlich durch Zuzug auf wenigstens 200 ver-
größerte, durch hiesige Straßen, löste sich nach
einiger Zeit auf, um sich auf den Nachmittags-
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Umzuge der deutschen Vereine vorzubereiten. Während
der Zwischenzeit versuchten einzelne Anführer durch
Zureden auch andere, an der Sache nicht beteiligte
ital[ienische] Arbeiter zum Mitmachen aufzuwiegeln.
Beim Umzuge der deutschen Vereine schloßen sich etwa
250 Italiener sam[m]t voriger Führerschaft an, begaben
sich dan[n] zusam[m]en in die Wirtschaft z[um] Löwengarten,
wo deutsche [und] italienische Reden gehalten wurden.
Zufolge glaubwürdigen Mitteilungen haben
die mitwirkenden ital[ienischen] Führer die meisten [und]
heftigsten Ansprachen gehalten.
Eine weitere Versam[m]lung tagte den 2. Mai
abhin im Gasthause z[um] Kreutzstutz, dieselbe besuchte
ich ebenfalls. Vor einer circ[a] 200 Italienern be-
standener Menge redete ein Vergnanini,
angeblich Schriftsteller in Genf, circ[a] 36 Jahre
alt, 173 cm hoch, Haare [und] kleines Schnurrbärtchen
dunkelblond, Gesicht blaß, spitz, Nase lang, schwarz
gekleidet. Derselbe nan[n]te seine Zuhörer Last-
tiere (Bestia di lavoro), unterjocht als Sklaven des
Kapitalismus, feuerte sie an, sich zu einem
Vereine zu gliedern, um so wirksamer dem
drohenden Verderben entgegen zu arbeiten, sich
frei zu machen, [und] weil in numerischer Mehrheit
dastehend, die Oberhand zu erringen. Die Ver-
samlung beschloß, einem weitern Zuge sich zuzu-
gesellen [und] nach Sursee mit den andern Vereinen
zu fahren. Vergnanini hingegen reiste in
Agitationsangelegenheit Mittags 11 3/4 Uhr nach Zürich.
Eine bedeutende Anzahl dieser Italiener, an Spitze
ihre Häupter, fuhren Nachmittags nach Sursee. Be-
gleitete dieselben in nicht auffallender Weise dorthin.
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In Sursee sam[m]elten sich [die] deutschen Vereine im Gast-
hause zur Krone, [und] die Italiener im Gasthause zum
Rösli. Letzere[!] beabsichtigten, die in Sursee [und] Um-
gebung sich aufhaltende Italienerarbeiter in
den im Gründen begriffenen Verein zu gewin[n]en.
Als Redner war extra ein gewißner Colombo, Maur-
er in Mailand, cir[ca] 37 Jahre alt, groß, schlank, Haare
schwarz, glattrasirtes Gesicht lang, auffallend blaß,
gestikulirendes Benehmen, bestellt. Derselbe führte
ebenfalls eine heftige Sprache [und] war durch einen
gewissnen Weber (Deutscher) unterstützt.
Vorgenan[n]te zwei Individuums, Tonazzi [und]
Vergnanini, dürften mit den von der schweizerisch[en]
Bundesanwalt hieherbezeichneten Agitateure ident-
isch sein. Was die andern genan[n]ten Personen
anbetrifft, muß ich durch fernere Enthebung-
en ihre genauere Personalien, Wohnort, extra
festzustellen suchen. Dieses gelingt mir nun
um so leichter, da ich dieselben nun persön-
lich zu kennen in den Fall gekom[m]en bin.
Werde es mir angelegen sein laßen, diesen
Personen eifrig nachzuforschen, um die zur
Einsicht empfangenen Schreiben des schw[eizerischen] Bundesan-
waltes erforderlichen Antworten in ihrem
Auftrage resp[ektive] des tit[ulierten] Militär- [und] Polizei-Departementes
mit Rapport erstatten zu kön[n]en.
Rapportirt
Aerni Ant[on] Corp[ora]l
Beilagen
8 Exemplar zur Austeilung gelangter [und] erworbener
soz[ialistischer] Druksachen.

Transkription: S. Jäggi
Einleitung: G. Egloff
Produktion: M. Lischer