Freizeit: Tagebuch einer Reise von Luzern nach Jena (Auszug), 1800

Reisen aus Vergnügen blieb lange einer Minderheit vorbehalten, die sich durch ihre finanziellen Mittel wenigstens etwas Komfort verschaffen konnte. Alle anderen reisten unter Bedingungen, die sich der heutige Pauschaltourist nicht mehr vorzustellen wagt.

Vergnügen hiess um 1800 aber nicht in erster Linie Bequemlichkeit, sondern Erlebnis und Bildung.

Das Original liegt im Staatsarchiv Luzern, Signatur: PA 178/511

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Freizeit: Tagebuch einer Reise von Luzern nach Jena (Auszug), 1800 - Titel
[Titel]
Reise von Luzern
nach Jena,
vom 2ten bis 20ten October
1800
 
Joseph Corraggione
Stud. Medicinae  
Freizeit: Tagebuch einer Reise von Luzern nach Jena (Auszug), 1800 - Seite 1
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Auszug aus dem Reisebuch
Corraggionis und Troxlers [1]
 
Den 4ten October sahen wir zum ersten Mahl die Gränz-
stadt unsres Vatterlandes: Basel. Ihre Lage
und Bauart sind zu bekant, als das wir uns über sie
einlaßen solten. Wir gehen zum literarischen
Zustand dieser ehedem blühenden Universitätsstadt
über. Herr Pfarrer Huber bott uns seine gefälli-
ge Hand, um uns auf die wichtigsten Gegenstände
zu leiten. Der erste, so einem Fremden mit
Stolz gewiesen wird, ist die Universitätsbibliothek
in dem Gebäude, wo einst das berühmte Basler
Concilium[2] gehalten worden. Der Saal, in dem
der Act vorbey gieng, ist nun voll von einer un-
zähligen Büchersammlung, welche näher zu durch-
gehen unsre Zeit nicht gönnte.
Nun zeigte man uns in einem untern Gemache,
das verschiedne Seltenheiten enthielt, ein Werk
von Erasmus, [3] mit Federzeichnungen von Holbein,[4]
das bekannte Laus Stultitiae.[5] Der Bibliotheksauf-
seher, Professor Herzog,[6] machte uns aufmerksam
auf eine Darstellung des Verfaßers, bey wel-
cher dieser selbst ausrief: O he, si Erasmus
adhuc talis eßet, profecto duceret uxorem![ 7]
 
 [1] Ignaz Vital Paul Troxler.
 [2] Konzil von Basel, 1431-1448.
 [3] Erasmus von Rotterdam hielt sich 1521-1529 in Basel auf und starb hier 1536. HBLS II, S. 50.
 [4] Hans Holbein d. J., 1497-1543, v.a. 1514-1526 in Basel tätig.
 [5] Lob der Torheit.
 [6] Johann Wernhard Herzog, 1726-1815, mehrmals Rektor der Universität Basel. HBLS IV, S. 204.
 [7] Wenn Erasmus noch so wäre, würde er gewiss heiraten!
Freizeit: Tagebuch einer Reise von Luzern nach Jena (Auszug), 1800 - Seite 2
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Eben so wies man uns die vier Evangelien in ei-
nem griechischen Manuscripte, das über 12 Jahr-
hundert alt sein soll. Dieses Werk übertrift an
Schönheit und Harmonie der Charactere selbst
unsere gegenwärtigen Tipen.
Jzt konte sich unser Auge weiden an den
Gemälden Hollbeins, vorzüglich an seinem
Abendmahle, an seiner Kreuzigung, den Port-
raits des Erasmus und Melancton, so wie an der
Familie des Künstlers selbst. Auch einem
gemeinen Kenner fält in dieser Sammlung
das stuffenweise Fortschreiten der Kunst auf,
von ihrem jüngeren Pinsel lies uns die Zeit
noch einige Überbleibsel, Aushängschilde für
Schulen, die gegen erstere wirklich contrast-
ieren. Noch deutete man uns auf
einen verscheidenden Christus, in welchem
die Copie eines erstikten Juden (ein
Kunstgriff Hollbeins) nicht zu mißkennen ist.
Wir sehen noch einige kleine Stüke und
Handzeichnungen von ihm, und gehen zu der sehr
vollzähligen berühmten Kupferstichsammlung
Mechels[8] über. Die Zeit drängt uns, diese
und die ihr angehängte von Gemälden bald zu
verlaßen. Im Vorbeygehen besuchten wir
 
 [8] Christian von Mechel, Kupferstecher, 1737-1817. HBLS V, S. 61.
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den durch die Zeit halb erblichenen Todtentanz[9].
Unser Führer riß uns aus dem Irrthum, in
den uns der fast allgemeine Glaube gezogen
hatte, daß diese Arbeit von Hollbein sey,
und nannte uns wirklich den Namen des Künst-
lers.
Von da geriethen wir in Bernoullis[10] Naturalien-
gabinet, wo sich unsre Blike in einer
Mänge von Conchilien,[11] ausgestopfter Vögel
und seltner in Brantwein conservierter aus-
ländischer Thiere verlohren, und nicht der gewünsch-
ten langen Durchsicht genießen konten.
Die erste Hälfte des Tages war vorüber.
Nachmittag giengs in den botanischen Gar-
ten. Sein Zustand schien uns beßer als
deßen in Zürich. Wir trafen da seinen
Pfleger, den Herrn Lachénal,[12] Professor der Botanik,
einen Freund des großen Hallers.[13] Er kam
mit einer Freundlichkeit auf uns zu, die uns
schon in der Ferne einnahm, führte uns
auf sein Zimmer, und wieß uns mit einer
liebenswürdigen Pedanterei seine littera-
rische Habe, welche in einer vollständigen und
wohlgeordneten und schönen Hausbibliothek, und
in einem Herbarium vivum besteht, das
 
 [9] Der um 1445-1450 entstandene Totentanz im Dominikanerkloster wurde 1805 zerstört.
 [10] Zahlreiche Mitglieder der Familie Bernoulli waren naturwissenschaftlich tätig; vgl. HBLS II, S. 194.
 [11] Schalen von Weichtieren (Muscheln etc.).
 [12] Wernhard Lachenal, 1736-1800. HBLS IV, S. 576.
 [13] Albrecht von Haller.  
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von allen Abarten jeder Pflanze ein Exemplar
enthält (so wie das Clima und der Orth, wo sie gewachsen,
eine Modification in ihr hervorbrachte).
Sein Besizer hatt es selbst mit vieljährigem
Fleisse und ausf Reisen gesammelt, es sucht
vieleicht seines gleichen in Europa.
Professor Thalnoni erhielt nun unsren Besuch,
und wann sein Naturaliengabinet in Hinnsicht auf
einige Seltenheiten, in Versteinerungen etc
ist es merkwürdig, mehr aber ist dieses seine
Sammlung von Zeichnungen, viele sind von der
Hand Raphaels, Angelo, Guido Reni, Corregio und
Carraci,[14] mehrere auch von deutschen Künst-
lern. Uns fiel eine vandalitische Schamhaftig-
keit auf, da an einigen Stüken die Natur nach
der Handlungsweise obscuranter Mönche mit
schwarzen Strichen durchkreuzt oder ausgekrazt
war. Aerger unterbrach eine Zeit lang den Ge-
nuß des Schönen, doch er daurte bei uns noch im-
mer ungesättigt, biß müde Augen und einbrech-
endes Dunkel ihn aufkündigten. Die Kupfer-
stichsammlung ein Pendant zu der erstern, muste
von uns unbesehen bleiben.
Den späten Abend brachten wir noch in der Lese-
gesellschaft zu, deren Statuten durch Druck bekant sind.
 
 [14] Raffael 1483-1520, Michelangelo 1475-1564, Guido Reni 1575-1642, Correggio um 1489-1534, Annibale Carraci 1560-1609. 
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So weit lernten wir Basel kennen, noch mehr
durch Umgang und Bekentniße einiger Bewohner.
Merkur[15] scheint die Musen ziemlich verdrängt
zu haben. Wirklich ist Handlungsgeist ein-
zig im Algemeinen der herschende, er hat
sich Wißenschaft und Cultur an manchem
Orte untergeordnet. Einige blieben dieser
treu; doch ist die izige Universität ge-
gen die ehemalige ein schwacher Sprössling
aus einem alten großen Stamm.
Einige Professoren scheinen noch als würdige
Bewohner auf den Ruinen zu wandlen,
andre aber von den ehedem grossen
Männern nur Ton, Pedanterie, und etwa
Peruque und Schlafrok beibehalten zu haben.
Sie mögen nicht wie Elisäus Erben des
Geistes und Mantels, sondern nur des letzten
gewesen sein! Auch der Fanatissmus hat
Bürgerrecht in Basel noch nicht ganz
verlohren, ein Zug wie folgender giebt den
Beleg dazu. Professor Frey starb während
unserm Dasein plözlich, und die Majorität
des gelehrten Publicums gab sich triumph-
ierender Freude preis und beglükwünschte sich,
daß eine glükliche Fügung des Himmels einem
 
 [15] U. a. Gott des Handels. 
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Gegner, der in hindern die Religion erstikte, und
ihrem Streite mit ihm über seine gefährlich
Lehrart ein so günstiges Ende gemacht
hatte.
Verdächtig, doch unerklärbahr wahr uns anfangs
diese unverhehlte Gemüthsstimmung so humaner
Geister, unsre Vermuthung aber, daß auch
da Licht mit Finsterniß im Streit ge-
wesen sein möge, wurde in Straßburg
zur Gewißheit, da ein dort sich befindender
Basler Gelehrter uns versicherte, daß der
Verstorbene ein Man von gründlichem
Wißen und reinem Willen wahr, und so auf
ächte Aufklärung hinarbeitete! Dieses
war die letzte Szene, die uns unser Va-
terland im moralischen Gebiete darbott.

Transkription: S. Jäggi
Einleitung, Bilder: G. Egloff
Produktion: M. Lischer